Mittwoch, 20. März 2013

Oger über Abenteurer


D&D - Spielercharaktere werden nicht als Helden geboren. Die meisten Spielwelten sind pseudo - mittelalterliche Gesellschaften, in der alle ihren Platz im Leben haben, und nur wenige dieses Kastensystem aus Adel, Klerus Bürger und Bauernstand jemals verlassen. Spielercharaktere durchbrechen dieses System - sie reisen von Ort zu Ort, sehen ferne Länder, kämpfen gegen seltsame Kreaturen, erleben Tod, Intrigen, Gewalt, und andere Unannehmlichkeiten aus nächster Hand.

Der "normale" Mensch/Elf/Zwerg/Wasauchimmer tut so etwas nicht.

Er bleibt in seinem Schloss, Tempel, Haus, Hütte sitzen, und verlässt den Umkreis seines normalen, sicheren und meist friedlichen Lebens so gut wie nie. Auf umherziehende Mietschwerter, Vagabunden, Heckenzauberer, und Pfaffen reagieren sie vermutlich herablassend, ausgrenzend, unsicher, abwehrend und nicht selten auch mit einem volkstümlichen Umzug mit Fackeln und Forken. Für die "normalen" sind die Charaktere eben keine Helden-in-spe, sondern Gesindel, Herumtreiber, Ketzer, Heiden, für die der Strick noch gut genug sein mag.

Das heißt, bis sie jemanden brauchen, der sie vor Problemen rettet, deren Bewältigung ihre Fähigkeiten übersteigt. 

Der "normale" Spielercharakter bei D&D ist eben genau das: Nicht "normal". Jedenfalls gemessen an den gesellschaftlichen Konventionen. Er verfügt über Eigenschaften und hat Dinge in seinem Leben erlebt, die ihn dazu treiben und befähigen, die Normalität einer geregelten, vermeintlich sicheren Existenz hinter sich zu lassen. 

Frage Dich mal selbst, was Dich dazu bringen würde, deinen Job, Studium, Schule hinzuschmeißen, Familie, Freunde, Frauen und Kinder zu verlassen, und in ein anderes Land, sagen wir, Afghanistan, den Kongo oder Mexiko auszuwandern, mit nicht mehr als Deinen Kleidern am Leib und ein paar Euro in der Tasche. Gut, mag man in manchen Fällen sagen, es ist der Beruf - aber was hat Dich in erster Linie dazu getrieben, diesen Beruf zu wählen?

Die Charaktererschaffung in den älteren Editionen, das ganze Spiel, ist so aufgebaut, das Charaktere schnell, frühzeitig, oft und überraschend ins Gras beißen. Ihnen werden weder von den Spielern noch den "normalen" NSC - Figuren Tränen hinterhergeweint. 

Erst, wenn sie den Horror der ersten paar Stufen überlebt haben, was nur durch eine Kombination von Spielerfertigkeiten und Glück möglich wird, ist langsames Durchatmen möglich. Irgendwann wächst der Ruf eines Charakters, und aus Abscheu und Ausgrenzung wird Neid und Angst. Vielleicht auch Respekt und Wertschätzung für vergangene Taten. Schließlich werden - nach vielen Sitzungen und Monaten, mit viel Glück, Ausdauer und Fertigkeit aus Abenteurern irgendwann Eroberer und Könige, Hohepriester und Erzmagier.

Eben jene Eigenschaften, derentwegen Dein Charakter verstoßen und ausgegrenzt wurde, haben ihn genau dorthin gebracht.


Eine Einladung:

Wenn Du einen D&D - Charakter erschaffst, streiche jegliche Vorstellung von Gandalf, Sir Lancelot, Robin Hood, Galadriel, besonderen Prophezeiungen, epischen Bestimmungen. 


Stelle Dir stattdessen vor:

Du bist ein Niemand. Schlimmer noch: Alle anderen Niemandse der Welt blicken auf Dich herab. Aber Du kannst das "Normale" Leben der Niemandse nicht leben, auch wenn Du gerne möchtest. 
Du lebst in Schmutz, Dreck, Blut, und schlimmeren Dingen.
Du tötest "Normale" Menschen, andere Abenteurer, Monster für ein paar Münzen Gold.
Du weißt nicht, ob Du den nächsten Tag erlebst.
Du hast Deine Eltern nie gekannt.
Du bist verflucht worden.
Du hungerst nach Macht. 
Du bist süchtig nach der Anwendung von Magie oder Gewalt.
Du hast bereits in jungen Jahren Dinge er- und überlebt, die manchen "Normalen" umhauen würden.
Das wenige Gold, was Du verdienst, schmeißt Du in Tavernen und Freudenhäusern zum Fenster raus.
Du bist häufiger betrunken und berauscht, als nüchtern und klar im Kopf.
Du bist der einzige Überlebende deines Clans oder Deiner Familie.
Du kannst weder Lesen noch Schreiben.
Du gierst nach Gold.
Du wachst nachts schreiend aus dem Traum auf.
Du wirst als Mörder, Dieb, Ketzer, Heide, Teufelsanbeter beschimpft. Und Du weißt, das da was wahres dran ist.
Du hast in verbotenen Büchern verstörende Dinge gelesen.
Du hast Freunde an die Pest, den Galgen, und an hungrige oder mörderische Kreaturen verloren.
Du denkst Tag und Nacht an Rache.
Du traust niemandem wirklich.
Du wurdest als junger Mensch geschlagen und misshandelt.
Du wurdest versklavt und hast schuften müssen.
Du wurdest von Deiner Familie oder deinem Volk verstoßen.
Du hast Schuld auf Dich geladen, die Dich quält.

Und dann stelle Dir vor, welche Gaben Du erhalten hast, die Dich weitermachen und überleben lässt.

Du hast einen Hunger nach Leben.
Du hast bis hier hin überlebt, wo andere gescheitert sind.
Du findest einen Weg, wo sich andere nur verirren und im Kreise drehen.
Du gehst Deinen eigenen Weg.
Du bist ein Entdecker.
Du stehst aufrecht, wo andere Haupt und Knie beugen.
Du verfügst über eine große Menschenkenntnis.
Du bist wahrhaftig und scheust nicht davor zurück, die Wahrheit zu sagen.
Du verfügst über Findigkeit.
Du geniesst jeden Augenblick Deines Lebens.
Du hast Erfahrungen, kennst Wahrheiten, die dem "normalen" Menschen verwehrt bleiben.
Du bist mutig.
Du hast immer das passende Werkzeug zur Hand.
Du bist willensstark.
Du bist auf der Suche.
Du bist hilfsbereit, weil Du anderen Deine Erfahrungen ersparen möchtest.
Du hast einen moralischen Kompass, und hältst auch in Ausnahmesituationen Deine Werte hoch.
Du hast einen starken Glauben an die Macht und Stärke Deiner Gottheit.

Beide Listen lassen sich sicherlich noch beliebig erweitern.  Ich habe erst überlegt, daraus eine Zufallstabelle zu machen, aber, das ist ein Post für einen anderen Tag.

2 Kommentare:

  1. Naja, Fantasy bedient sich sehr stark bei der Romantik und den Präraffeliten der 1800-1880. Große Helden, uralte Sagen, Drachen, Ritter und Jungfrauen.

    Das ganze mit dem Dreck und Mistgabeln ist nur eine späte Dekonstruktion, die erst ab Ende der 90er vornehmlich im Rollenspiel aufkam und die doch irgendwie keiner will, denn wenn man sich das Artwork von Rollenspielen ansieht, dann sind das immer noch dieselben Heldenfiguren wie auf den Gemälden von Waterhouse, nur dass es da mittlerweile eine größere stilistische Nähe zum modernen Superheldencomic gibt.

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  2. Stimmt nicht ganz, jedenfalls nicht bei D&D. Da waren die Bezugsquellen auch Vance, Leiber und Howard, und nicht nur Tolkien und die klassische Literatur.

    Dort waren die Protagonisten eben keine strahlenden Helden, vom Volke gefeiert, sondern Außenseiter.

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