Der folgende Aufsatz ist
eine Antwort an den letzten von Blechpirat verfassten Artikel auf
seinem Blog, Cyberpunk 2020 mit dem Titel Im Jahr 2020. Sie bezieht sich explizit nicht auf den
die Spielmechaniken betreffenden Teil, wobei dies nicht als
Zustimmung zu seinen Einschätzungen zu werten ist, sondern auf sein
Fazit.
Der Artikel ist fünf
Jahre alt, mir aber schon länger bekannt. Ich habe immer wieder
angesetzt, dann abgelassen, aber ich halte es für verkehrt, die
Kritik am Artikel, an der verfassenden Person und den ihn umgebenden
Zirkel von Personen noch länger hinauszuschieben. Es war, wie der
geneigte Leser vielleicht zustimmen wird, jedoch wertvoll, Zeit
verstreichen zu lassen, um zu betrachten, wie gut wie bestimmte
Aussagen gealtert sind.
Cyberpunk kann dieses Spiel nicht sein, Red ist dieses Spiel
nicht und Mike wird nicht derjenige sein, dem es nochmal gelingen
wird. Denn schon die Prämisse von Cyberpunk ist überholt. Cyberpunk
basierte immer auf der Idee, dass ein Individuum oder eine kleine
Gruppe von Menschen etwas ändern könnte.
Diese grundlegende
Aussage ist falsch. Cyberpunk ist ein Genre, dass eine große Anzahl
von Themen behandelt – die Rebellion gegen das System (wie zum
Beispiel in Die Matrix und Elysium angedeutet, ist nur
ein kleiner Teil des Komplexes, eine Ausprägung, die man am eigenen
Spieltisch haben kann oder auch nicht.
Setting und System
versuchen dabei, eine Wirklichkeit abzubilden und bleibt dabei
relativ getreu zu den literarischen Vorlagen.
All die Klassen des GRW versprachen ein gewisses
Maß an Autonomie vom repressiven System.
Nein. Einige Klassen –
vorran der Konzerner und der Gesetzeshüter – repräsentieren
Menschen, die das System einer durch repressive Polizeigewalt
aufrechterhaltenen, korrupten Oligarchie stützen, nicht
bekämpfen.
Im
übrigen sind – in so gut wie allen Spielen dieses Genres – die
Charaktere vor allem abstreitbare Humanressourcen, die in den
verschiedenen illegalen Vorhaben – von Konzernspionage über
Sabotage hin zu Attentaten – eingesetzt werden.
Hier
muss man Mike Pondsmiths Spiele sogar ausdrücklich loben, weil sie
mit zwei Klassen – Reporter und Rockster – Kampagnenideen
forcieren, die nicht so recht in ein Setting passen, das allzuoft von
slicken Konzernspionen und Söldnern dominiert wird. Andere Spiele
sehen das nicht vor.
Ich wundere mich über diese
Auslassungen.
2020 haben wir gelernt, dass dies eine Illusion ist. Das
Schicksal von Julian Assange zeigt uns, dass Hacker/Journalisten
nichts ändern können. Selbst ein Videofeed eines Kriegsverbrechens
hat keine Folgen für die Soldaten, die auf Journalisten und
Sanitäter schießen, und schon gar nicht für ihre Befehlshaber –
es hat aber brutale Folgen für denjenigen, der die Veröffentlichung
ermöglicht hat. Niemand erwartet, dass es zu Änderungen im
Verhalten der Militärmacht USA kommt und der Preis, den Assange,
Snowden, Manning, Winner und andere zahlen ist hoch.
Assange, Manning und
Winner sind mittlerweile freie Menschen. Snowden ist es im russischen
Exil auch, und hat sich kurz vor Beginn des russischen Angriffskriegs
nicht nur entschlossen, die Hand, die ihn füttert, nicht nur nicht
zu beißen, sondern zu schlecken.
Manning, Winner und
Snowden hätten zumindest theoretisch die Möglichkeit gehabt, sich
ihrerzeit an den zuständigen Inspector General zu wenden, eine
Institution, die den Machtmissbrauch staatlicher Institutionen
aufdecken und verhindern sollte (und bei uns, nebenbei, fast
vollständig fehlt); sollte, weil diese Funktionen von der
derzeitigen Administration geschliffen werden.
Aber ja, sie haben alle
einen Preis bezahlt. Was wäre hier, bei uns, geschehen?
Und wenn wir gerade bei
Russland waren: Wieviele Journalisten sind dort in den Jahren von
Putins Herrschaft weggesperrt, gefoltert und ermordet worden?
Was mich zu den folgenden
Fragen bringt:
Ist der Autor in
Unkenntnis gewesen, oder war er unwillens, dies in Betracht zu
ziehen?
Ist er es heute noch?
Wie gehen er und seine
Clique mit Dissidenten und Whistleblowern um?
Das Gewehr des Solos als Garant der Autonomie hat
in Zeiten von Drohnen, die ungesehen in großer Höhe über dir
schweben und dich auf Knopfdruck auslöschen können, längst
ausgedient. Es ist geradezu Folklore in den USA – Reste einer
Illusion von der Fähigkeit, sich gegen einen Diktator wehren zu
können. In Afghanistan haben die Menschen längst gelernt, dass der
Tod unsichtbar vom Himmel fällt – ob du Bräutigam oder Partisan
bist, macht für eine Hellfire-Rakete keinen Unterschied.
Ich lasse es jeden selbst
beurteilen, wie diese Aussage hinsichtlich der Entwicklung in
Afghanistan seit dann auf ihn wirkt.
Nur eines: Die Frauen,
die dort jetzt wieder unter den Schleier gezwungen werden, sowie
unsere Ortskräfte, die wir verraten und im Stich gelassen haben,
verwenden sicherlich nicht das in diesem Zusammenhang zustimmend
klingende Wort „Partisan“ mit dem angedeuteten Bella Ciao.
Mittlerweile – nur fünf
Jahre nach dem Artikel – sind Drohnen auf den Schlachtfeldern in
der Ukraine ein dominierendes Element. Wie der Krieg auch immer
ausgehen mag, die Verteidiger haben es mit einfachsten Mitteln
geschafft, die brutale Stärke und Übermacht des Gegners damit
zumindest für eine kurze Zeit zu abzuschwächen und zu
neutralisieren.
Diese Kombination aus
Findigkeit, technischem Know How und Verzweiflung wird im
Cyberpunk-Genre immer wieder auf die folgende Weise ausgedrückt:
Die Straße findet ihre
eigene Verwendung für die Dinge.
Exkurs
Dass diese Grundhaltung dem typischen, deutschen Cyberpunk - und Shadowrunspieler, der seitenlange Charakterbiographien hegt und pflegt und artig den Eisenbahnschienen des Spielleiters folgt, fremd ist, wundert den Oger nicht. Auch trägt bei vielen Spielleitungen die Nähe zum Schummelerzählspiel und Ablehnung von Exploration der Spielwelt und Ergebnisoffenheit sicherlich zur Verkrüppelung von Spielerfertigkeiten, mangelndem Horizont und Langeweile am Spieltisch bei.
Ich mache keinen Hehl daraus, das ich Blechpirat genau dort auch einordne.
Aber dies alles soll ausführlicher anderntags besprochen werden.
Fürs Erste schreibe sich der geneigte Leser den obigen Satz in sein GRW, was immer es sein mag.
Exkurs Ende
Cyberpunk hatte immer die Vision, dass uns die
Technik revolutionäre Macht gibt. Es gibt Beispiele dafür, dass dem
so hätte sein könnten. Der Arabische Frühling oder die
prodemokratischen Demonstrationen in Hong-Kong zeigen einen
geschickten Einsatz von Technik. Aber eben auch die letztlich
vergebliche Hoffnung, damit etwas bewirken zu können, denn dieselbe
Technik dient auch den Unterdrückern. Und die haben einfach mehr
Geld, mehr Helfer und weniger Skrupel, diese Technik auch
einzusetzen.
Hu?
In Neuromancer sind
Hochtechnologien wie KI's und Raumstationen fest in den Händen der
Eliten, ähnlich ist es bei den anderen Werken Gibsons, Altered
Carbon, Deus Ex, Ready
Player One, Blade
Runner, Elysium, Shadowrun und
Cyberpunk selbst (siehe Adam Smasher, die Relics und Mikoshi).
Dinge finden auf
die Straße, weil es kaum noch staatliche
Kontrolle gibt – die vom Autor so viel beschworene Überwachung
findet nur in den Vierteln der Reichen und Mächtigen statt, nicht in
den Slums. Das gilt selbst in Hong Kong.
Eine andere
Fehlannahme ist, wie im Drohnenbeispiel schon gezeigt, ist, dass
Technologien und Gegentechnologien sich in einem ständigen Wettkampf
befinden. Was war man froh, Enkrochat geknackt zu haben – nur um
dann festzustellen, dass sich nach kurzer Zeit dutzende Nachahmer
gefunden hatten, die eigene Modelle auf den Markt geschmissen haben.
Schließlich noch
der Punkt, warum die Bewegungen in Hong Kong und im Nahen Osten
scheiterten – weil es oftmals nur urbane und studentische Gruppen
waren, die den Protest vorrantrieben, während die entscheidenden
Massen zu Hause blieben, aus Ablehnung oder Furcht. Um diese hervor
zu bringen, bräuchte es entsprechende Tugenden – die es in einer
Kultur geben mag oder auch nicht.
Haben die Briten
für eine starke demokratische Protestkultur während der Jahre der
Kolonialherrschaft gesorgt?
Gab es eine solche
Kultur, die Netzwerke, in den arabischen Ländern?
Welche Auswirkungen
haben gut positionierte Netzwerker wie Blechpirat und seine Clique
auf die Protestkultur, die Energie und Bereitschaft einer Kultur (so
klein und unbedeutend ihr Einfluss auch sein mag), wenn sie sagen
„Aufgrund der Technik hat doch Protest keinen Sinn!“?
Wir haben heute gelernt, dass wir für eine
Änderung der Realität zugunsten der Mehrheit der Menschen, für die
Erhaltung oder gar Ausweitung ihrer Freiheit, nicht auf die Technik
vertrauen dürfen. Alles, was bei Cyberpunk für Freiheit steht
(Computer, Gewehre, Technik, Verbesserung des Körpers) hat sich als
Feind der Freiheit erwiesen. Die Technik versklavt die Arbeiter (z.B.
minutengenaue Überwachung der Packsklaven bei Amazon), überwacht
den Konsumenten bis in den Alltag (Facebook), und hat unser Leben bis
ins Schlafzimmer durchdrungen, wo wir Alexa und Co bitten, das Licht
zu dimmen, während uns die freiwillig von unserem hart erarbeiten
Geld gekauften Wanzen der Techkonzerne selbst beim Sex noch
belauschen.
Man kann, wie aufgezeigt,
entweder sich der Übermacht der Techbroligarchen ergeben, oder auf
seine Art Widerstand leisten. Niemand muss Facebook und Twitter
nutzen, kann auf andere Plattformen ausweichen; man kann Amazon
boykottieren und trotzdem überleben.
Menschen versklaven
Menschen, jedenfalls, solange KI's noch nicht weit genug sind, uns
diese Drecksarbeit abzunehmen. Selbst dann werden sie Diener einer
Elite sein.
Wenn wir uns nicht
wehren.
(Irgendwie erinnert mich
die Klage dann doch an die Aufrufe der Küsteneliten in den USA, man
möge doch „Decorum“ wahren und ansonsten bitte gar nichts gegen
das Trump-Regime unternehmen, weil es die Wahlchancen gefährdet.)
Und als Europäer wissen wir aus leidvoller
Erfahrung, dass mehr Waffen nicht mehr Freiheit, sondern mehr Tod und
Verstümmelung bedeuten – eine Lektion, die die Amerikaner sich
weigern zu lernen.
Dazu drei Anmerkungen.
Erstens: Die Todesraten
in den USA lassen sich zwar auch auf die erhöhte Anzahl von
Schusswaffen zurückführen, als solitärer Grund greift das
natürlich zu kurz. Maßgeblich dazu bei tragen
Armut
Fehlende soziale
Netze
Rassissmus
Drogenmissbrauch
Kriminalität als
ganzes als Folge daraus
Schlechte
Polizeiausbildung
Qualified Immunity
kulturelle
Verherrlichung von Gewalt, Männlichkeit, Law & Order
Einiges davon gilt auch zunehmend für die Bundesrepublik Deutschland, durch zunehmenden Wandel in eine Rentierswirtschaft und politische Radikalisierung. Polizeigewalt gegen Farbige ist bei uns auch ein Problem.
Zweitens: Es haben sich
in den USA zahlreiche Milizen gebildet, die nach ihrem
Selbstverständnis gegen die Übergriffigkeit des Staates oder
politische Gegner richten. Die meisten sind rechtsgerichtet, einige
waren beim Putschversuch vom 6. Januar 2021 dabei. Hätte Kamala Harris gewonnen, so wäre eine Mobilisierung dieser Milizen gegen die als Tyrannen empfundenen Demokraten durchaus eine Gefahr gewesen. Umgekehrt haben Gruppen wie die Socialist Rifle Association ebenfalls Zulauf.
Drittens: Es gab
sicherlich Zeiten, in denen wir uns des
militärischen Schutzes durch die USA gewiss sein konnten, da war es
noch möglich, einen Habitus der moralischen Überlegenheit durch
Gewaltfreiheit und des unbedingten Pazifismus vor sich herzutragen. Diese dürften nun vorbei sein,
jedenfalls wünsche ich das dem Autor und etwaigen Lesern dieses Artikels. Dieser Schutz erlaubte uns zum Teil unseren Wohlstand und die andere Priorisierung von Staatsausgaben.
Im Gegenteil: Die wenigen Revolutionen, die
wirklich zu einem Mehr an Freiheit führten, waren Gewaltlos.
Eine weitere sehr
europäische, wenn nicht gar deutsche Sichtweise.
Amerika und viele andere
ehemalige Kolonien haben ihre Unabhängigkeit nicht friedlich
erhalten, was eine Vorbedingung für Freiheit ist; die
Farbenrevolution in der Ukraine und anderswo muss nun mit der Waffe
verteidigt werden.
Sie beschmutzt auch das
Andenken derer, die gegen Hitler kämpften und ihr Leben gaben, von
Elser und dem 20. Juli, den Partisanen und den Soldaten der
Alliierten.
Ich kann mich insgesamt des Eindrucks eines beim Autor nur dürftig verborgenen Antiamerikanismus nur schwerlich erwehren,
Verbesserung der Körper durch Cyberware, Drogen
und Chirurgie, ein wichtiges Thema des Cyberpunk, war etwas zur
Steigerung der Selbstbestimmung und der Freiheit.
Nein.
Hauptantrieb bei der
Nutzung der „Verbesserungen“ im Spiel war Effektivität als Edge-
oder Shadowrunner, bei gleichzeitiger Opferung der eigenen
Menschlichkeit und auch langfristigen Überlebenschancen, um den
Marktwert als Asset zu steigern. Das findet sich schon bei Molly
Millions aus Neuromancer und Johnny Mnemonic.
In anderen (wenigen)
Fällen mag es auch um medizinischen Ersatz für verlorene
Körperteile gegangen sein, scheint mir aber eher selten vorzukommen.
Heute ist davon geblieben, dass junge Mädchen
sich die Lippen aufpumpen und die Brüste vergrößern lassen, um bei
Onlyfriends mehr Geld für quasipornographische Bilder zu bekommen.
Vielleicht mag es den
Autor schockieren, aber Cyberpunk – Genre und Spiele – sind sehr
promiskuitiv, sehen Mann und Frau als Ware, erlauben Cyberimplantate
für sexuelle Standhaftigkeit, „Fleischpuppen“, direkte
Aufzeichnungen aus dem Nervensystem – und treiben die
Komodifikation des Menschen somit weiter auf die Spitze.
Das gesagt, finde ich es
durchaus erhellend, wie sich ein Mann aus dem gehobenen Bürgertum über
Sexarbeiter äußert – mit, wie ich finde, in Bekümmerung
gehüllter Verachtung und Herablassung.
Die Freiheit, so auszusehen wie man will – oder
zumindest anders als das System es will – ist gesunken, nicht
gestiegen, seit es Schönheitschirugie gibt.
Abgesehen davon, das
„Schönheitschirurgie“ oftmals Menschen mit Entstellungen durch
Narben hilft, und ihnen damit Lebensqualität schenkt – wer bist
Du, dass Du es anderen absprichst, sich einem solchen Ideal annähern zu wollen? Und ich fange noch nichtmal mit den Operationen für Transmenschen an.
Erneut moralisierendes Zeigefingergewackel.
Aber kommen wir zum Abschluss.
Blechpirat verengt sich in seiner Aussage auf eine spezifische Sicht auf das Genre, die eine mögliche Interpretationsform sein kann - aber nicht muss. Es zeigt sich entweder eine Unkenntnis über das übergeordnete literarische Genre und seiner Stilelemente, oder die Verengung findet künstlich statt.
Sein Kommentar ist überladen mit einer Überheblichkeit, die ich aus den Wohnzimmern der bundesdeutschen Großbürger kenne, die nie wirklich in Kontakt mit anderen Sichtweisen kommen. Es ist Meinung mit wenig Fakten, keine tiefgehende Analyse. Ihm fehlt es, man erlaube mir den Scherz, vielleicht auch an einigen Punkten Empathie.
Um es mit Marx zu sagen: Er ist aus der Bourgeoisie, und redet über ein Spiel, in dem die Charaktere oftmals aus dem Lumpenproletariat stammen.
Jemand, der abweichende Meinungen in der Vergangenheit mundtot gemacht hat, Feindlistenführung geduldet hat, sich intransparent und unverbindlich verhält, redet über die Revolution.
Und zwar in einer Weise, die entmutigend rüberkommt.
Das Problem ist, die in Cyberpunk gezeigte Dystopie ist keine entfernte Zukunft mehr. Sie ist Gegenwart geworden, in der Konsolidierung von Konzernen, in der Demontage des Staates in den USA, in den technischen Fortschritten, in der sozialen Ungerechtigkeit, im Entstehen technofeudaler Oligarchien.
Es war die Warnung, die Gibson, Pondsmith und Octavia Butler (Earthseed!) ausgesprochen haben.
Blechpirat und seine Clique werden im Kampf gegen diese Zukunft keine Verbündeten sein. Die Erfahrung, die Amerikaner gerade machen müssen, ist, dass die Eliten reihenweise das Knie gebeugt haben, von Milliardären über Medien hin zu Universitäten und Anwaltskanzleien.
Jene, von denen man ausging und erwartete, sie würden standhalten.
Sie werden Euch ausliefern.
Zum Disputorium.